«Hansli bringt Leben in die Schule!»

    «Hansli kann keine fünf Minuten ruhig sitzen. Er stört die Klasse und redet ständig über die Kühe im Stall zu Hause. Er ist eine Ablenkung! Ab sofort darf er die Schule nicht mehr besuchen.» Mit diesen entschiedenen Worten bestimmte eine Primarlehrerin im Emmental um 1940 das Schicksal meines Onkels Hansli. Seine Klassenkameraden bedauerten diese Entscheidung zutiefst und meinten: «Hansli bringt Leben in die Schule!»

    (Bilder: Wahlfach-Klasse Fotografie Sek Mettmenstetten) Die «Schulinsel» ist ein Ort, wo individuell Schulstoff bearbeitet werden kann und schwierige oder schwächere Schülerinnen und Schüler von einer Fachperson betreut werden.

    Heute wäre Hansli vermutlich als verhaltensauffälliges Kind eingestuft worden und hätte sonderpädagogische Förderung erhalten. Die Schullandschaft hat sich seither grundlegend verändert: Wo früher der Frontalunterricht dominierte, prägen heute Reformen und neue Erziehungsmodelle den Alltag.

    Lehrpersonen stehen mittlerweile vor vielfältigen Herausforderungen – nicht nur in pädagogischer und disziplinarischer Hinsicht, sondern auch durch den Einfluss unterschiedlicher kultureller Hintergründe. Neben fachlichem Wissen benötigen sie immer mehr psychologische und soziale Kompetenzen, um den Ansprüchen gerecht zu werden. Silvia Steiner, Bildungsdirektorin des Kantons Zürich, setzt sich seit Langem dafür ein, die Lehrerschaft zu entlasten, bleibt jedoch dem Grundmodell der integrativen Förderung verpflichtet. Dieses Modell, vor etwa einem Jahrzehnt eingeführt, sieht vor, dass alle Kinder in Regelklassen unterrichtet werden und die Lehrpersonen bei Bedarf von Fachpersonal unterstützt werden.

    Seraina Galeffi von der Schule Rütihof in Höngg beschreibt in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger (5. September 2024) ihre Haltung zu Kindern mit besonderem Förderbedarf: «Ich schätze verhaltensauffällige Kinder, die keine gradlinige Schullaufbahn durchlaufen.» Aufgrund zahlreicher solcher Schülerinnen und Schüler wurde in Höngg vor elf Jahren eine der ersten «Schulinseln» ins Leben gerufen. Sie bietet diesen Kindern die Möglichkeit, in einem separaten Raum unter fachkundiger Betreuung zu lernen, was den Unterricht in den Regelklassen deutlich entlastet.

    Doch reicht dieses Modell der «Schulinsel», um die Lehrpersonen im herausfordernden Schulalltag wirklich zu entlasten? Wäre es möglicherweise sinnvoller, erneut kleinere Förderklassen für verhaltensauffällige Kinder einzuführen? Denn in der Praxis entstehen durch solche Massnahmen häufig zusätzliche Unterbrechungen im Unterricht. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler müssen entweder von der Lehrperson zur «Schulinsel» geschickt oder direkt im Klassenzimmer von einer Schulassistenz oder Heilpädagogin betreut werden. Dies führt zu einem hohen Abstimmungsaufwand zwischen Lehrkräften und Fachpersonal und stellt für viele Lehrpersonen eher eine Belastung als eine Entlastung dar.

    Vor diesem Hintergrund plädierte in Zürich ein überparteiliches Komitee aus dem Mitte-rechts-Spektrum für eine Systemänderung und startete eine Volksinitiative: Kinder, die den Unterricht erheblich stören, sollen Zugang zu heilpädagogisch geführten Förderklassen erhalten. Diese könnten auf Beschluss der Schulpflege zusammengestellt werden. Solche Förderklassen würden nicht nur die Regelklassen entlasten, sondern könnten auch den betroffenen Kindern zugutekommen, die oft mit ihrem Sonderstatus und der ständigen Begleitung durch Fachpersonal in Regelklassen Schwierigkeiten haben. In kleineren Förderklassen könnten die Bedürfnisse dieser Schüler gezielter berücksichtigt werden.

    Ende Oktober hat der Zürcher Regierungsrat nun einen Gegenvorschlag zur «Förderklassen-Initiative» präsentiert. Mit dem Gegenvorschlag soll die gesetzliche Grundlage geschaffen werden, damit «erweiterte Lernräume» die Regelklassen und Lehrpersonen entlasten. Zukünftig sollten alle Zürcher Gemeinden die Möglichkeit haben, flächendeckend solche erweiterten Lernräume zu schaffen und die dafür notwendigen Mittel aufgestockt würden.

    Dieses Projekt steht und fällt nämlich aktuell mit den finanziellen Möglichkeiten einer Gemeinde und dem Engagement der Verantwortlichen sowie dem geeigneten Fachpersonal. Gut funktionierende Lerninseln wie in Höngg oder der Sekundarschule Mettmenstetten sind heute vielerorts noch Wunschdenken. Mit dem Gegenvorschlag des Zürcher Regierungsrates bekämen sie eine echte Chance.

    Hansli, mein Onkel, hätte eine solche Option vermutlich willkommen geheissen. Da ihm jedoch damals jegliche Schulbildung verwehrt blieb, lernte er nie lesen und schreiben. Angesichts der heute zur Verfügung stehenden Mittel für Fördermassnahmen sollte das Schulsystem offen sein für neue und bewährte Modelle, um jedem Kind die Unterstützung zu bieten, die es wirklich benötigt.

    Erika Bigler,
    Sekundarlehrerin und
    Präsidentin für zeitgemässes Lernen

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