«Wir stellen das Publikum ins Zentrum»

    Das European Museum Forum hat das Stapferhaus Lenzburg kürzlich mit dem Europäischen Museumpreis ausgezeichnet. Für Sybille Lichtensteiger, Leiterin Stapferhaus Lenzburg, und ihr Team ist dieser Preis eine grosse Überraschung. Damit kann das Aargauer Museum seine nationalen und internationale Kontake ausbauen. Hier erzählt die innovative Museumsleiterin wie sie ihrem Publikum zu neuen Perspektiven verhilft, über den Dialog über wichtige Fragen der Gegenwart sowie über den Neubau am Bahnhof, der sich bereits mehr als bewährt hat.

    (Bild: zVg) Sybille Lichtensteiger, Leiterin Stapferhaus Lenzburg: «Wir holen die Besucher/innen bei den Themen ab, die sie beschäftigten und die ihr Leben prägen.»

    Das European Museum Forum hat das Stapferhaus Lenzburg kürzlich mit dem Europäischen Museumpreis ausgezeichnet. Haben Sie diese Auszeichnung erwartet?
    Sybille Lichtensteiger: Nein, es war eine grosse Überraschung. Denn das Stapferhaus ist kein klassisches Museum, wir haben «nur» eine Sammlung an Geschichten (immaterielles Erbe) und keine Objektsammlung und widmen uns vor allem der Gegenwart. Museumspolitisch ist es sehr spannend, dass der Preis ans Stapferhaus gegangen ist.

    Was bedeutet Ihnen diese grosse internationale Anerkennung?
    Es bedeutet, dass wir nicht immer erklären müssen, dass wir nationale Bedeutung haben, obwohl unser Haus in einer kleinen Stadt wie Lenzburg steht. Und es lässt das Netzwerken auf internationaler Ebene einfacher machen. Das ist sehr spannend für das Stapferhaus.

    Das Stapferhaus Lenzburg wurde als «Laboratorium für Lebenskunst, wie es alle Museen sein müssten» gelobt. Was ist denn charakteristisch für Ihr Haus respektive wie sieht Ihre Museumphilosophie aus?
    Wir stellen das Publikum ins Zentrum und den Dialog über wichtige Fragen der Gegenwart und der Art und Weise wie wir zusammenleben wollen. Dabei ist uns die Meinung der Besucher/innen wichtig, denn sie sind es ja schliesslich, die über die Zukunft unseres Landes bestimmen.

    Das Stapferhaus hat sich das Motto «innovativ, kreativ und zukunftsorientiert» auf die Fahne geschrieben. Wie erreicht man diese Vorgaben immer wieder?
    Ich glaube, indem man sich diese Schlagwörter nicht immer vor Augen hält. Wir wollen immer wieder von Neuem die bestmögliche Ausstellung machen und mit den Ausstellungen unsere inhaltlichen Ziele erreichen. Das spornt uns an – und im Besten Fall ist das Resultat dann innovativ und kreativ.

    Wie suchen Sie mit Ihren Ausstellungen immer wieder den Kontakt zum Publikum, respektive wie erreicht man heute die Besucherinnen und Besucher?
    Wir holen die Besucher/innen bei den Themen ab, die sie beschäftigten und die ihr Leben prägen. Dort versuchen wir alle ein Stück weiter zu führen, aus ihrer eigenen «Bubble» hinaus hin zu neuen Perspektiven, Meinungen und Geschichten. Dabei ist uns immer auch wichtig, dass sich die Besucher/innen mit ihren Erfahrungen und Meinungen auch in die Ausstellung einbringen können.

    Was sind die relevanten Fragen der Gegenwart, die das Publikum auch interessieren?
    Das sind viele… ich glaube eigentlich, dass alle wichtigen Themen der Gegenwart auch das Publikum interessieren, wenn man sie so erzählt, dass eine Auseinandersetzung auch unterhaltsam und erlebnisreich ist.

    Welche Bilanz können Sie bezüglich der aktuellen Ausstellung «Geschlecht» ziehen?
    Obwohl wir aufgrund von Corona Ende 2020 gar nicht richtig starten konnten, hat sich das Interesse an der Ausstellung gehalten: Die aufgrund von Covid-19 begrenzte Anzahl Besucher/innen wird fast täglich erreicht. Das heisst: Die Ausstellung ist fast immer ausgebucht.

    Lockt der Preis nun mehr Publikum in Ihre Ausstellungen?
    Die Besucher/innen kommen wohl eher wegen der Ausstellung als wegen des Preises. Der Preis ist aber eine grosse Bestätigung für unsere Arbeit und auch dafür, dass unser Haus weit über den Aargau hinaus eine Bedeutung hat. Der Preis wird uns sicher helfen, die nationalen und internationalen Kontakte noch auszubauen.

    Das Stapferhaus Lenzburg hat seit bald drei Jahren mit dem 13 Millionen teuren Neubau beim Bahnhof eine eigene Spielstätte. Wie viele Besucherinnen und Besucher hatten Sie schon und welche Bilanz können Sie ziehen?
    Die Eröffnungsausstellung «Fake» verzeichnete mit 120’000 Besucher/innen einen Rekord und schrieb damit den Erfolg der Stapferhaus-Ausstellungen weiter (trotz Lockdown in der Verlängerungszeit von FAKE). Wir freuen uns aber nicht nur über die guten Zahlen, sondern vor allem auch über das gute Feedback und darüber, dass sich der Neubau auf allen Ebenen bewährt: er lässt sich mit jedem Projekt aufs Neue verwandeln und stellt sich mit seiner Architektur in den Dienst der Stapferhaus-Projekte und des Publikums. Bewährt hat sich das neue Haus nicht nur als Ausstellungshaus, sondern auch als Veranstaltungsort, für Stapferhaus-eigene Veranstaltungen aber auch für solche von Dritten: Die Räume bieten eine perfekte Atmosphäre für alles Mögliche, von der Generalversammlung bis zum Konzert und vom Teamworkshop bis zur Jubiläumsfeier. Gerade auch während Corona hat sich das Haus mit seiner Flexibilität unter Beweis gestellt.

    Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Stapferhauses Lenzburg?
    Dass das Stapferhaus so beweglich und neugierig bleibt und weiterhin auf ein so tolles, engagiertes Team zählen kann – und selbstverständlich auch auf ein treues, begeistertes Publikum aus Nah und Fern.

    Interview: Corinne Remund


    Das Stapferhaus in Lenzburg

    Gegründet wurde das Stapferhaus 1960 durch Pro Argovia, Pro Helvetia, den Kanton Aargau und die Stadt Lenzburg. Philipp Albert Stapfer (1766–1840) gilt als Gründer des Kantons Aargau. Er war ein kultur- und bildungspolitischer Visionär und widmete sich – trotz traditionell geprägter Herkunft – der Gegenwart und Zukunft. In den ersten 30 Jahren lädt das Stapferhaus zu Tagungen und Debatten auf Schloss Lenzburg. Ab 1994 setzt das Stapferhaus unter der Leitung von Hans Ulrich Glarner erstmals auf das Ausstellungsformat: «Anne Frank und wir», was ein riesiger Erfolg war.

    Von 2002 bis 2018 baute das Stapferhaus seine Erlebniswelten zu Gegenwartsfragen im Zeughaus Lenzburg auf, während die Büros weiterhin im Schloss untergebracht sind. 2018 erhält das Stapferhaus mit dem Neubau am Bahnhof Lenzburg erstmals eine Heimat, die Ausstellungs- und Büroräume unter einem Dach vereint. Die erste Ausstellung heisst «FAKE. Die ganze Wahrheit» (2018–2020).

    Der pionierhafte Neubau am Bahnhof Lenzburg stellt sich in den Dienst der Inhalte, der Vermittlungsformate und des Publikums. Die Architektur ist darauf angelegt, immer wieder verändert zu werden: Treppen und Wände können verschoben, Böden geöffnet, Fassade und Vorplatz bearbeitet und gestaltet werden – eine grosse Bühne für die spielerische Auseinandersetzung mit den relevanten Fragen unserer Zeit.

    Die aktuelle Ausstellung «Geschlecht» ist noch bis am 31. Oktober 2021 zu sehen.

    www.stapferhaus.ch

    Vorheriger ArtikelPolitiker, Philosoph und Bestsellerautor feiert Geburtstag!
    Nächster ArtikelBeziehungen auf Augenhöhe